GESPENSTISCHE RHYTHMEN IN MAMOIADA – KARNEVAL AUF SARDINIEN
18 Oktober 2019
KARNEVAL AUF SARDINIEN: IN EINEM BERGDORF PRÄSENTIEREN SICH MAMUTHONES UND ISSOHADORES BEREITS LANGE VOR DER EIGENTLICHEN FASTNACHTSZEIT
TEXT: MATTHIAS KÜHN
FOTOS: RALF SIEGELE
Am Tag des Heiligen Antonius, dem 17. Januar, gibt es auf Sardinien jedes Jahr einen Vorgeschmack auf den Karneval. Die wohl berühmteste Figur der sardischen Fastnacht ist der Mamuthone aus dem Bergdorf Mamoiada – eine archaische Figur, die auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt.
Hoch in den Bergen Sardiniens, in der Barbagia di Ollolai, liegt inmitten von Kork- und Steineichenwäldern ein kleines Dorf. Rund 2.500 Menschen leben hier – viele davon arbeiten in den Weinbergen, die schon ihre Vorfahren den Wäldern abgerungen haben. Eine gewaltige, fast überdimensionierte Kirche prägt das Ortsbild, die Kirche Nostra Signora di Loreta. Kalt ist es hier im Januar, auf über sechshundert Meter Höhe bläst ein eisiger Wind, der so gar nichts zu tun hat mit den Bildern, die sich normalerweise beim Wörtchen Sardinien einstellen.
Mamoiada heißt der Ort im Herzen der zweitgrößten Mittelmeerinsel, zwei Autostunden entfernt von der Hauptstadt Cagliari – und mehr als eine Stunde weg von Goloritze, wo der berühmteste Strand der Insel die üblichen Klischees bedient. Nach Mamoiada verirren sich kaum einmal Touristen. Aber im Januar und zur Zeit des „Carnevale“ reisen ein paar Fastnachtsliebhaber an, auch aus den umliegenden Dörfern kommen Schaulustige – etwa aus Tiana, das am Anfang unseres Jahrhunderts kurz Berühmtheit erlangte: Dort lebte der älteste Mann der Welt. Überhaupt werden die Menschen in der Region Nuoro besonders alt. Kalt, rau, unbarmherzig – das ist wohl das ideale Klima für ein langes Leben.
Kalt und rau – eine Tradition wie das Klima
Kalt, rau und unbarmherzig ist auch die Fastnachtstradition, die sich in Mamoiada seit Jahrhunderten erhalten hat. Die erste Besonderheit fängt schon beim Datum an: Jedes Jahr beginnen die Feierlichkeiten am 16. Januar – also eigentlich zur Unzeit. Es ist der Vorabend zum Fest des Heiligen Antonius des Großen, einem ägyptischen Einsiedler, der als „Vater der Mönche“ gilt und als Schutzpatron der Bauern, Schweinehirten und Metzger fungiert. Auf ganz Sardinien wird der Antonius-Tag gefeiert, die Mamoiadaner starten am Spätnachmittag mit einem riesigen Feuer aus Eichenwurzeln vor der Kirche. Nach einem Gottesdienst werden mit brennenden Scheiten aus dem Hauptfeuer im ganzen Ort weitere Feuer entzündet, die schließlich die ganze Nacht durchbrennen müssen. In dicken Schwaden steigt Rauch von rund vierzig Feuerstellen über dem Dorf auf – geschulte Augen sollen darin erkennen, ob das kommende Erntejahr ein gutes wird oder nicht.
Eine verwunschene Atmosphäre liegt an diesem Abend über dem Dorf, während auf dem Hauptplatz mittelalterliche sardische Musik gespielt wird und die Frauen von Mamoiada Einheimische wie Fremde mit frischgebackenen Spezialitäten versorgen. Es gibt Süßigkeiten mit Honig und getrocknetem Obst, dazu das speziell für diesen Tag zubereitete „Brot des Heiligen Antonius“– eine Leckerei mit Haselnüssen, Mandeln und Rosinen. Und natürlich wird der regionale Rotwein ausgeschenkt, mit dem das Dorf bei Weinkennern punktet: Er ist dunkel und schwer, ein rustikaler Landwein, der zur Bodenständigkeit und Ursprünglichkeit der Dorfbewohner passt. Es kribbelt im Dorf – das liegt an der Vorfreude auf den kommenden Tag.
Feierlicher Ernst in der Darbietung
Denn der 17. Januar ist der Tag, an dem die beiden wichtigsten Figuren des örtlichen Karnevals auftauchen: die Mamuthones, die eigentlichen Protagonisten, und ihre Beschützer oder – je nach Sichtweise – Herren, die Issohadores. Die Kostüme der Mamuthones werden von den Issohadores mit Dutzenden von Schellen besetzt – das Gesamtgewicht kommt dabei locker auf dreißig Kilo. Die Kuhglocken hängen an Lederriemen, die wiederum eng an den Körper gelegt werden. Sehr eng – viel Luft zum Atmen bleibt den Menschen in den Kostümen nicht.
In jeder Gruppe gibt es zwölf Mamuthones – einen für jeden Monat. Die schaurigen Masken sind kleine Heiligtümer: Es heißt, dass die Maske die Physiognomie des Trägers darstellt und daher auch nicht vererbt wird. Jede Generation muss sich jeweils selbst um die Maskierung kümmern. Gefertigt werden die Ungetüme aus Kirschholz, dunkle Schafsfelle verstärken den gruseligen, unnahbaren Auftritt. Sobald die Maske sitzt, kommt die Mütze dazu, die wiederum mit einem Kopftuch festgebunden wird.
Konzentriert auf den Rhythmus – und auf die eigene Gruppe
Vielleicht liegt es am schieren Gewicht der Glocken mit ihren Klöppeln aus Schafsknochen, vielleicht an der Mentalität der Menschen in der abgelegenen Bergregion – die Mamuthones ziehen nun ohne ein Wort und ohne einen Blick fürs Publikum durch Mamoiada. Sie sind arme, gegängelte Sarden, die das Schicksal vieler Bewohner von Mittelmeerinseln teilen: Immer wieder kamen Eroberer ins Land und knechteten die Bevölkerung, zwangen ihnen Sprache, Religion, Rechtssystem und Sitten auf und verschwanden irgendwann wieder. Sehr wahrscheinlich entstand so auch diese Karnevalstradition: Die Sarden nehmen das Recht in die eigene Hand und rebellieren gegen die Unterdrücker. Wo genau der Brauch seine Ursprünge hat, ist nicht bekannt. Manche Forscher meinen, es handle sich bei den Issohadores um neue Herrscher, die ihre Untertanen – also die Mamuthones – knechten und ihnen die Kuhglocken strammziehen. Immerhin tragen die Issohadores zu weißen Kostümen elegante Westen in Rot, ihre Gesichter sind von weißen, schönen Masken bedeckt – und sie sind mit nur acht Personen pro Gruppe in der Unterzahl. Ob die Figur nach spanischen Vorbildern entstand oder nach maurischen, weiß niemand genau. Weniger als zweihundert Kilometer trennen Sardinien von Tunesien, da liegt die Theorie arabischer Einflüsse natürlich nahe.
Die Issohadores suchen den Kontakt zum Publikum – und sie sind bewaffnet: Mit ihren Lassos halten sie nicht nur die Mamuthones in Schach, sondern fangen auch mal geschickt Zuschauer ein. Wer sich erwischen lässt, muss in einer Bar eine Runde ausgeben, um sich aus der kurzfristigen Gefangenschaft zu befreien. Viele der einheimischen Männer zeigen sich gern spendabel, denn es soll Glück bringen. Frauen fürchten die Festnahme dagegen eher, denn sie müssen sich ihre Freiheit meistens mit einem Kuss zurückkaufen. Das Wort Issohadores bedeutet übrigens nichts anderes als „Seilträger“ – bei den Mamuthones sind sich die Forscher uneins: Vielleicht stammt der Begriff vom Ortsnamen ab, was die Idee stärkt, dass es sich um Einheimische handelt – oder er kommt von einem alten sardischen Wort für Teufel. Oder stammt er doch aus einer ganz anderen Quelle?
Jedenfalls sind beide Figuren während des gesamten Umzugs, der eher einer Prozession gleicht, eng miteinander verbunden. Um sie herum wird musiziert, die Menschen tanzen in kleinen Gruppen, während die Mamuthones schwer an ihrem Schicksal und dem damit verbundenen Gewicht tragen. Sie bewegen sich langsam in einer Reihe voran, sie schütteln beim Gehen rhythmisch abwechselnd ihre Schultern, sie springen mit all ihrem Gewicht, um die Glocken läuten zu lassen – alles geht nach klarem Ablauf vor sich. So schaffen die Mamuthones eine ebenso bedrückende wie beeindruckende Atmosphäre, die sie selbst zu genießen scheinen: In der Tat ist das Klingen der Glocken, das sich mit dem Echo aus den nahen Bergen vermischt, gespenstisch, beängstigend und unglaublich faszinierend. Die Issohadores nehmen diese Stimmung auf: Auch wenn sie natürlich leichtfüßiger sind, passen sie sich immer wieder dem langsam fließenden Rhythmus ihrer Knechte an.
Ausgelassener in der Fastnachtszeit
Der Antoniustag ist freilich nur der Auftakt – eine ernste, fast heilige Vorbereitung auf die wesentlich ausgelassenere Zeit des eigentlichen Karnevals. Außer den beiden Figuren gibt es in Mamoiada nichts, die aber werden ausgiebig in Szene gesetzt. Aus allen Generationen gibt es Gruppen von jeweils zwölf Mamuthones und acht Issohadores – sogar Kindergruppen. Für die Kinder ist die Fastnachtszeit dann auch der wirkliche Höhepunkt, denn ihnen wird sogar ein ganzer Tag gewidmet: Der Fastnachtsmontag ist der Kindertag! So schlagen die Mamoiadaner gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Kinder fühlen sich als Teil der gesamten Tradition ernstgenommen – und Nachwuchsprobleme sind komplett ausgeräumt.
Der Haupttag am „Carnevale di Mamoiada“ allerdings ist der Fastnachtssonntag: Da kommt es zum großen Umzug und das Dörfchen quillt förmlich über von Menschen. Hier, wo der Tourismus normalerweise so gut wie gar keine wirtschaftliche Bedeutung besitzt, hört man plötzlich ein Sprachengemisch, die Zufahrtsstraße ist fast zugestellt mit Mietwagen, die Bars und Kneipen laufen über mit radebrechenden, gestikulierenden Mitteleuropäern, die für ihren Sardinienurlaub nicht die richtige Kleidung mitgebracht haben, denn auch zur Fastnachtszeit ist es hier oben kalt und windig. Die Touristen kommen auch meistens um die Spesen herum, die üblicherweise bei den mit dem Lasso Eingefangenen in den Kneipen anfallen – mit einem knappen „no capito“: kein Italienisch und Sardisch schon gar nicht! Die Stimmung ist auch am Fastnachtssonntag düster und gespenstisch, aber im Gegensatz zum Antonius-Tag im Januar wird nun viel mehr getanzt und gelacht, es ist schließlich Carnevale, da sind die Menschen eben ausgelassener.
Auch am letzten Tag, dem Dienstag, wird die Prozession aufgeführt. Da sind die Einheimischen wieder fast unter sich. Wehmut ist auch dabei, weil die närrischen Tage zu Ende gehen – auch wenn sich die Narren von Mamoiada inzwischen nicht mehr ganz so an die vom Kalender vorbestimmten Zeiten halten. Die Bewohner, die seit Jahrhunderten hart für ihr Auskommen arbeiten müssen, erkennen gerade den Tourismus als Einnahmequelle. So kann es inzwischen durchaus vorkommen, dass Reiseveranstalter auch im Hochsommer traditionelles Brauchtum in Mamoiada in ihr Programm aufnehmen. Das Dorf mit seinen Kneipen und Trattorien kann die zusätzlichen Einnahmen brauchen. Selbst wer einfach nur so ins Dorf kommt, kann sich einen Überblick über die Veranstaltung verschaffen: Das örtliche Museum stellt Masken und Figuren aus, sogar eine Sammlung von Figuren anderer europäischen Fastnachtstraditionen ist hier zu bestaunen. Der Höhepunkt aber ist ein Film – über die Prozession der Mamuthones und der Issohadores. Aber echte Fastnachtsliebhaber kommen sowieso entweder zum traditionellen Antonius-Tag oder zum Großen Umzug am Fastnachtssonntag. Wenn es kalt ist.
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