CHAMPAGNER, AUSTERN UND INKAFEDERN: KARNEVAL AUF BELGISCH

10 Juli 2019

DIE ÄLTESTE FASTNACHTSTRADITION DER WELT? NATÜRLICH IN BINCHE

TEXT: MATTHIAS KÜHN

FOTOS: RALF SIEGELE

Es ist die berühmteste heute noch begangene Tradition Belgiens – und wahrscheinlich eine der ältesten der Welt. Wenn der Carnaval de Binche gefeiert wird, quillt das Städtchen komplett über: Mehr als hunderttausend Zuschauer verfolgen in Binche eine farbenprächtige und vielseitige Veranstaltung.

Es ist kurz nach fünf Uhr morgens an diesem Fastnachtsdienstag. Wir schlafen im Auto. Hotelzimmer gibt es zu dieser Zeit im gesamten Umkreis keine mehr, selbst Privatzimmer werden fast schon versteigert. Wir schlafen den Schlaf frischgebackener Eltern, die beim kleinsten Husten ihrer Kinder sofort da sind. Denn wir wissen: Wenn die Gilles am Auto vorbeikommen, müssen wir wach werden. Schließlich wollen wir einen Tag dokumentieren, der im europäischen Brauchtum außergewöhnlich ist.

 

Wir sind mit einem Schlag wach. Im Auto ist der leichte Schlaf sowieso kein Problem. Schließlich lärmen die Gilles um diese Zeit – dazu etwas abseits des historischen Zentrums – noch nicht so heftig wie später. Genaugenommen machen sie aber den ganzen Tag lang Krach. Als sie uns im eisigen Wagen wecken, ist die Gruppe, der wir uns in der belgischen Winterkälte zunächst an die Fersen heften, noch eher wenig aktiv. Die Besenrasseln der bunt gekleideten Narren sind noch längst nicht im Gleichtakt, die Tambours, die sie begleiten, hauen nur sporadisch und mit wenig Kraft auf ihre großen Trommeln. Das wird sich bald ändern.

Buckel und Bauch: ausgestopft mit Stroh

 

Um diese Zeit, kurz nach fünf am Morgen, sind die Gilles schon eine ganze Weile wach. Es dauert seine Zeit, bis die Kostüme, die von den belgischen Nationalfarben dominiert werden, angezogen sind. Diese Kostüme werden mit viel Aufwand und Stoff gefertigt, sie zeigen meistens den belgischen Löwen und weitere nationale Symbole wie Kronen oder Sterne. Dazu kommt der glöckchenbehangene Gürtel, genannt Apertintaille – und ein Glöckchen, das mittig an der Brust prangt. Um die strengen Kleiderregeln zu erfüllen, brauchen die Gilles Hilfe beim Ankleiden. Wer nicht von der Familie angezogen wird, bekommt Unterstützung von den Borreurs, die eigens dafür von Haus zu Haus ziehen. Ganze Bündel von Stroh werden unter die Jacke gestopft, bis der Gille das hat, was er braucht: Einen Bauch und – besonders wichtig– einen ordentlichen Buckel, von der spitzenbesetzten Halskrause bis zum unteren Saum. Wer immer da stopft, muss es gewissenhaft tun. Denn das Kostüm muss den ganzen Tag halten, bis spät in die Nacht hinein. Es wird ein anstrengender Tag – für alle Gilles.

 

Um in Binche Gilles zu werden, braucht es ein paar Voraussetzungen. Nur Männer, die im Ort geboren wurden, dürfen in die Kostüme schlüpfen. Und sie müssen einiges aushalten: Abgesehen von einem kleinen Frühstück ernähren sich die Gilles an diesem Haupttag der einheimischen Fastnacht ausschließlich von Champagner und Austern. Das muss man – vor allem am frühen Morgen – erst einmal wegstecken.

In vielen Fastnachtstraditionen ist der Dienstag der wichtigste Tag. Hier, in der französischsprachigen Wallonie, heißt der Fastnachtsdienstag Mardi Gras – also Fetter Dienstag. Der Begriff ist international hauptsächlich durch New Orleans bekannt geworden, wo die französischstämmigen Einwanderer – vor allem im Cajun-Country rund um Lafayette – bis heute ihre Fastnachtstraditionen begehen. In Binche, fast auf den Punkt sechzig Kilometer südlich von Brüssel, ist die Tradition freilich etwas älter als in New Orleans.

 

Mardi Gras – der „fette Dienstag“ ist der Haupttag

 

Um genau zu sein: Sie ist sehr alt. Ob die Bincher Fastnacht nun wirklich die älteste der gesamten Wallonie ist, wie die Einheimischen gern behaupten, lässt sich nicht beweisen. Denn wie immer bei dermaßen alten Traditionen, so gibt es auch hier unterschiedliche Geschichten über die Ursprünge des Brauchtums. Die Anfänge sollen gar bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen, der erste Umzug fand mit ziemlicher Sicherheit 1395 statt.

 

Damals aber gab es die heutige Hauptfigur noch nicht: Die Gilles haben ihren Ursprung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als plausibelste Erklärung für diese Tradition gilt heute die Überlieferung, die der Historiker Adolphe Delmée Mitte des 19. Jahrhunderts verkündete. Danach habe Maria von Ungarn im Jahre 1549 gleich mit mehreren Neuerungen für Aufsehen gesorgt. Maria, geboren in Brüssel, verwaltete als Statthalterin ihre Heimat – die Spanischen Niederlanden, zu denen das heutige Belgien zählte.

 

In jenem Jahr veranstaltete Maria zu Ehren ihres Bruders Karl ein Fest. Maria hielt sich sowieso gern und häufig in Binche auf, der prächtige Renaissancepalast zeugt heute noch davon. Bei jenem Fest verteilten farbenprächtig gekleidete Menschen Orangen an die Bevölkerung. Diese komischen, überraschend süßen Äpfel aus China waren damals in Europa fast nur auf der iberischen Halbinsel bekannt, wo ihr Bruder Karl V. – dort als Carlos I. – der erste König von Kastilien, León und Aragón war.

 

Starker Eindruck 1549: Inkafedern und Hofdamen

 

Die zweite Neuheit, die in Binche damals auftauchte, waren die Federn. Zu jener Zeit als Helden verehrte Konquistadoren wie Francisco Pizarro oder Hernán Cortes hatten in Südamerika mit grausamen Metzeleien riesige Gebiete fürs spanische Königshaus erobert. Um diese Eroberungen angemessen zu feiern, ließ Maria als Inka verkleidete Hofdamen durch die Straßen ziehen. Ob auch tatsächlich peruanische Ureinwohner dabei waren, wie in Binche behauptet wird, darüber lässt sich nur spekulieren. Was aber feststeht: Die Federn der indigenen Kultur hinterließen tiefe Eindrücke bei den Menschen, die zumeist selbst Brüssel nur vom Hörensagen kannten. Vielleicht begann die Tradition aber auch mit der Sehnsucht nach Frieden – denn schon kurz nach jenem folgenreichen Fest war es vorbei mit Wohlstand und Ruhe in Binche. Schon 1554 plünderten die Franzosen Palast und Bürgerhäuser der Stadt, bis ins 18. Jahrhundert hinein blieb die Gegend zwischen Frankreich und Spanien umkämpft.

In den meisten anderen Städten der Wallonie mischen sich wenige Touristen unter die Einheimischen. In Binche war das schon anders, bevor die Tradition von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklärt wurde. Binche galt auch zuvor als Besonderheit – und das nicht nur, weil die Gilles hier die wohl gigantischsten Federhüte in ganz Europa haben. Es liegt daran, dass die Gilles in ihren jahrhundertealten Kostümen eher scheu sind. Sie laufen nicht polternd durch die Straßen, sie jagen niemanden, sie trinken, essen oder rauchen nicht einmal in der Öffentlichkeit.

 

Schüchterner Auftritt

 

Dabei müssen sie viel essen und trinken. Immer wieder kehren die Gilles in Häuser ein, dabei verfolgen sie offenbar einen Plan, der uns verborgen bleibt. Hinter verschlossenen Türen erhalten sie dann Champagner, der sie gleichermaßen zu wärmen und zu beflügeln scheint – und reichlich Austern zum Schlürfen. Aber erst wenn alles runtergeschluckt ist, geht es wieder auf die Straße. Ob die Kostüme in den Häusern zwischendurch gerichtet werden?

In Belgien sind sich die Menschen einig, dass die legendäre Schüchternheit der Narrenfigur zu ihrem Schutz beigetragen hat. Denn als die UNESO im Jahre 2003 erstmals eine europäische Karnevalstradition als schützenswert einstufte, war das Aufsehen groß. Binche? Warum nicht Venedig – oder Rottweil? Und selbst als die Liste 2008 ratifiziert wurde, war keine zweite vergleichbare Tradition hinzugekommen. Das hat sich inzwischen zwar geändert, aber in Binche ist die Sonderstellung heute noch spürbar.

Längst sind die Zuschauerzahlen sechsstellig. Auch heute säumen mehr als hunderttausend Menschen die Wege der Aktiven, die in Gruppen durch die Straßen ziehen und tanzen. Am meisten Aufmerksamkeit erhalten natürlich die Gilles mit ihren Kopfverbänden. Nach einer Weile setzen sie alle Wachsmasken auf, auf die Bärtchen gemalt sind. Es ist ein magischer Moment: Alle Gilles werden mit einem Schlag anonym – und ziehen auch noch Nickelbrillen über ihre Masken. Jetzt sind sie kaum voneinander zu unterscheiden. Sowieso sehen alle gleich aus, und wenn sich zwei Gruppen in den Straßen kreuzen, ist es für die Zuschauer nicht eindeutig, ob sich die Gruppen nicht vermischen. Aber das passiert natürlich nicht. Sie gleichen nur gegenseitig den Rhythmus ihrer Besen an, die sie zu den Trommelschlägen der Tambours schwingen, und gehen wieder auseinander, wild durch die Stadt. Die Trommler übrigens sind nicht verkleidet, sie tragen ganz normale Alltagskleidung.

 

Gegen Mittag betreten die Gruppen der Gilles nach und nach das Rathaus, wo sie vom Bürgermeister empfangen werden. Altgediente Gilles erhalten dort Orden. Das Rathaus verlassen die Aktiven wieder unmaskiert. Und sie verschwinden: Jetzt ist nämlich Mittagspause, und die haben die Aktiven auch bitter nötig. Auch wir wärmen uns auf. Wir wundern uns darüber, dass die Cafés und Kneipen nicht vollkommen überfüllt sind. Wir bekommen problemlos Sitzplätze – in einer Stadt, in der die Hotels teilweise auf Jahre hinaus ausgebucht sind für den Mardi Gras.

 

Am frühen Nachmittag sind die Aktiven frisch für den großen Umzug. Der wird mit Kanonenschüssen angekündigt  und vereint alle Gruppen: Neben den Gilles gibt es Harlekine und Pierrots, die sich zum großen Teil aus Kindern und Jugendlichen rekrutieren – und aus Männern, die nicht in Binche geboren wurden. Denn die anderen, das sind ja die Gilles: Wer es werden kann, wird es, dieses Gesetz scheint in der Stadt mit ihren gut 30.000 Einwohnern für die meisten zu gelten. Manche sind auch schon als Kinder mit dabei, aber die meisten Kleinen landen bei den Harlekinen mit ihren pastellfarbenen Kostümen, den spitzen Hüten und den Augenbinden. Oder bei den Pierrots, die an ihren bunten Kleidern, den Halskrausen und den Jägermützen zu erkennen sind. Immer wieder mischen sich Angehörige und Freunde ohne Verkleidung dazu, vor allem Frauen. Für Frauen ist das fast die einzige Möglichkeit, aktiv am Carnaval de Binche teilzunehmen. Es sei denn, sie gehen in Männerkleidung als „Mam’zélles“.

 

Kiloschwerer Federschmuck

 

Beim Umzug tragen etliche der Gilles nun endlich ihre gewaltigen Federhüte. Es sind – die Binchois sind sich sicher – die gigantischsten, die sich im europäischen Brauchtum finden lassen. Wenn nicht die einzigen. Hunderte von Gilles tragen die Hüte aus Straußenfedern, die schwer sind und auf Kopf und Nacken drücken. Die Hüte behindern die Gilles auch bei ihrer nächsten Aktion: Jetzt werden Orangen geworfen.

Kaum setzt sich die Menge in Gang, bestimmen die Südfrüchte das Bild. Alle werfen Orangen in die Menge, manche landen auch auf den Fassaden der umliegenden Häuser und platzen saftig auf. Alle tragen Weidenkörbe mit sich, bis an den Rand gefüllt mit Orangen. Jene Gilles, die auf den Federschmuck verzichten und nur einen Kopfverband tragen, sind eindeutig im Vorteil. Die Trommler geben alles dazu, auch Blasmusikanten sind dabei und begleiten die Orangenwerfer auf ihrem Weg zum nahen Rathaus. Es sind kaum mehr als fünfhundert Meter, die der Umzug zurücklegt, dafür braucht er aber weit über eine Stunde. Auf den abgesperrten Gehwegen drücken sich die Menschen gegenseitig an Geländer und Häuserwände, versuchen aber trotzdem, ein paar Orangen zu ergattern.

Dann verlässt die Menge die Gasse und verläuft sich fast auf dem riesigen Rathausplatz, während Trommeln, Trompeten und Tuben weiter lärmen. Bald dämmert es schon wieder – die Gilles haben ihre traditionellen Pflichten erfüllt. Sie nehmen ihre schweren Federhüte ab und tanzen. Auch wenn längst die Füße schmerzen, es wird getanzt, bis die Muskeln wieder warm sind und bis es dunkel wird. Die Kostümierten und ihre Begleiter genießen, jetzt umringt von unzähligen Zuschauern, die Bühne. Was dann folgt, ist für die meisten Zuschauer ein krönender Abschluss: Ein großes Feuerwerk zieht die Aufmerksamkeit von den Gilles nach oben. Angeblich hatte schon Maria von Ungarn die Feierlichkeiten zu Ehren ihres Bruders 1549 mit einem Feuerwerk beendet.

 

Für die Gilles jedenfalls ist der Arbeitstag jetzt beendet – es geht zum Feiern. Sie legen ihre Schüchternheit ab und verteilen sich auf die Kneipen der Stadt. Nach und nach verlassen die Zuschauermassen die Stadt wieder. Und wir überlegen uns, nachdem wir uns unter feiernden Gilles, Pierrots und Harlekins in einer Kneipe wieder aufgewärmt haben, wo genau noch einmal das Auto steht. Die Binchois aber feiern weiter – bis zum Morgengrauen. Bis die Fastenzeit beginnt.

 

, , , , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>