KARNEVAL IN ITALIEN: DAS PIOMONTESISCHE IVREA WIRD JEDES JAHR VOM TYRANNEN BEFREIT – MIT EINEM ÄUSSERST SEHENSWERTEN AUFSTAND

19 August 2019

TREFFER: DIE ORANGENSCHLACHT

TEXT: MATTHIAS KÜHN

FOTOS: RALF SIEGELE

„Nieder mit den Tyrannen“ – das ist das Motto des Höhepunktes im Karneval der norditalienischen Stadt Ivrea. An drei Nachmittagen finden hier heftige Kämpfe statt. Als Wurfgeschosse dienen Tonnen von Orangen, die extra dafür aus Sizilien in den Norden transportiert werden.

Danach sieht die Stadt aus, als hätte eine historische Schlacht stattgefunden. Erschöpfte Menschen in besudelten Klamotten torkeln mit verklebten Haaren benommen durch rutschige Straßen, hier und da bluten Nasen; viele Augen sind zugeschwollen. Die Straßen wiederum sind mit klebrigen Resten gepflastert.

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Unvorstellbare Mengen von Orangen sind hier förmlich explodiert – ganze Häuserwände erzählen davon. Was in dieser Stadt geschehen ist, kann kein Spaß gewesen sein.

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„Wir nehmen das sehr ernst“, sagt ein Bewohner von Ivrea, während die Schlacht noch tobt, „das haben unsere Großeltern ja auch so gemacht.“ Er geht in Deckung, um wenig beschädigte oder sogar noch frische Früchte aufzuheben und sie auf die vermeintlichen Bösen zu feuern.

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Die Legende von der schönen Müllerstochter

Der Ursprung der Tradition liegt weit zurück im Mittelalter, der Beginn des Brauches immerhin noch über zweihundert Jahre: 1808 erkannten die damaligen napoleonischen Fremdherrscher, dass ihnen die Vielfalt der Karnevalsfeste im Ort gefährlich werden könnte. Also ließen sie nur noch ein einziges Festprogramm zu. Nur ein Programm? Das sollte es dann aber in sich haben. So kam es, dass sich die Einwohner von Ivrea ganz symbolisch an eine Legende erinnerten, nach der schon einmal ein Tyrann aus dem Ort vertrieben wurde.

Nach dieser alten Geschichte kam es zu einem Aufstand, auf den die Menschen in Ivrea auch viele Generationen später noch stolz sind. So installierten sie als Zeichen gegen Napoleon und seine Truppen einen neuen Brauch. Die Botschaft war deutlich: Wir werden auch diese Herrschaft überleben.

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Und so geht die alte Geschichte: Angeblich hatte um im Jahr 1150 der Statthalter Kaiser Barbarossas, der damals hier regierte, bei der Tochter eines Müllers auf das „Recht der ersten Nacht“ bestanden – nicht unüblich in jener Zeit. Der Despotenvertreter, der es gewohnt war, dass ihm nichts abgeschlagen wurde, empfing die frischvermählte Frau auf der Burg – doch der Müllerstochter gelang es, den mitgebrachten Dolch zu zücken und dem Tyrannen die Kehle durchzuschneiden. Sie trennte dem Statthalter – um die Legende schön gruselig zu gestalten – gar den Kopf ab und hielt ihn über die Burgmauer. Das war das ausgemachte Zeichen für den Aufstand: Die Burg wurde gestürmt und niedergebrannt; so befreite die Müllerstochter ihr Dorf von der Tyrannei.

Aus Orangen wird Munition

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Und so lehnt sich Ivrea, am nördlichen Rand der Poebene gelegen, heute Jahr für Jahr gegen die Truppen des Tyrannen auf. Die Schergen des skrupellosen Herrschers zehren die Stadt aus – und die Einwohner wehren sich vehement. Für den Kopf des Tyrannen stehen seit langer Zeit die Orangen. Und entsprechend gehen die Einwohner des Städtchens mit den Südfrüchten um: alles andere als zimperlich. Früchte zu Wurfgeschossen!

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Immerhin sind die regierungstreuen Truppen schlau genug. Sie haben Helme auf, die sie einigermaßen vor den Gegenangriffen schützen. So stehen sie auf ihren Umzugswagen und schleudern im Sekundentakt Orangen in die Menge, so wuchtig wie möglich. Natürlich ist es nur ein Spiel – und dennoch ist allen Teilnehmern eine enorme Anspannung anzumerken. An drei Fastnachtstagen, nämlich am Sonntag, Montag und Dienstag, treten neun Mannschaften gegeneinander an. Und jedes Mal kommt es zu erbarmungslosen Schlachten. Am Ende wird nach für Außenstehende undurchsichtigen Regeln ein Gewinnerteam ermittelt und gefeiert.

Bevor es losgeht, liegt die Vorahnung der kommenden Schlacht über der ganzen Stadt. Gleich auf mehreren Plätzen werden Kisten von Orangen gestapelt. Fast sieht es so aus, als würden Märkte aufgebaut werden, aber in den Augen der Einheimischen ist deutlich die hohe Konzentration und eine große Achtsamkeit zu erkennen. Das ganze Städtchen mit seinen rund 24.000 Einwohnern steht unter Strom: Fünfhundert Tonnen Orangen werden jedes Jahr aus Sizilien in den Ort transportiert – fünfhundert Tonnen! Das ist natürlich eine irrsinnige Verschwendung von Lebensmitteln. Allerdings: Niemand hier nimmt die Orangen als Lebensmittel wahr. Es ist Munition.

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Ja, es sind nur Orangen, die da geworfen werden, aber die können ordentliche Schäden anrichten; um die hundert Verletzte gibt es jedes Jahr, da sind Hämatome, Prellungen, aufgeplatzte Lippen und blutende Nasen nicht mitgezählt. Die Umzugswagen sind voller Munition, den „Bodentruppen“ stehen ganze Paletten an Munition zur Verfügung.

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Die „Mugnaia“ wird jedes Jahr neu gewählt

Natürlich gibt es in Ivrea auch weitere Fastnachtstraditionen. Im Zentrum steht die Heldin, die nach der Legende für den Aufstand verantwortlich war. Ob sich die Geschichte mit dem Dolch tatsächlich so zugetragen hat, lässt sich nicht beweisen; Auslöser könnte auch der Protest der Müller gegen eine Mehlsteuer gewesen sein, in dessen Mittelpunkt möglicherweise die Tochter eines Müllers stand. Tatsache ist jedenfalls, dass sich die jungen Frauen in Ivrea darum reißen, für ein paar Tage im Frühjahr in die Rolle der „Mugnaia“ zu schlüpfen, also der legendären Müllerstochter. Die wird nämlich jedes Jahr neu gewählt.

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Weitere historische Charaktere tummeln sich in der Fastnachtszeit im Städtchen. Da ist der General, der im Auftrag der napoleonischen Macht den geregelten Ablauf der Festlichkeiten zu sichern hat; da gibt es die Offiziere Napoleons, die versuchen, die Untertanen unter Kontrolle zu halten; und es gibt Umzugsgruppen, die musizierend durch die Stadt ziehen, um die Befreiung vom Tyrannen zu feiern. So vermischen sich im heutigen Brauchtum auch die Ursprünge: Was ist jetzt mittelalterlichen Ereignissen zuzuordnen und was napoleonischen? Vermutlich können die Einheimischen selbst das nicht mehr so richtig trennen.

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Das Ziel aller Teilnehmer am Karneval von Ivrea aber ist klar: Jeder möchte am Aschermittwoch traditionell Dorsch und Polenta essen – möglichst unversehrt. Übrigens kann grundsätzlich auch jeder Tourist Orangen werfen. Allerdings sollte man dafür einige Regeln beachten: Eine rote Zipfelmütze – die „phrygische Mütze“ – auf dem Kopf zeigt an, dass man zu den Aufständischen gehört. Das verhindert zumindest, dass man von Gleichgesinnten beworfen wird. Dann sollte man nicht nur auf den Wurfarm achten, sondern mit dem anderen Arm das Gesicht schützen, vor allem Augen und Nase. Der Dresscode lautet: „casual“. Nur bei den Schuhen sollte man sich auf eine imaginäre Klettertour vorbereiten: Wer ausrutscht, verliert.

Der beste Tipp für Touristen lautet allerdings: hinter den Absperrungen bleiben. Dort ist es immer noch gefährlich genug. Besser, man geht sogar hinter die Sicherheitsnetze, die an vielen Stellen aufgespannt werden.

Anfangs wurden übrigens nur Bohnen geworfen, die ihren Ursprung in der Zeit Barbarossas hatten. Damals wurde dieses Gemüse dem Volk nämlich nur zweimal jährlich ausgegeben; das Bohnenwerfen entsprach also eher einer Mischung aus Stolz und Verachtung. Erst im letzten Jahrhundert kamen die Orangen auf, als einige Mädchen mit geworfenen Südfrüchten die Aufmerksamkeit der jungen Männer auf den Umzugswagen auf sich ziehen wollten. Heute erregt eine einzelne geworfene Orange längst keine Aufmerksamkeit mehr. Es sei denn, sie trifft genau ins Ziel.

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